Auf der Suche nach einer Tradition
Dieser Text ist für alle Schriftstellerinnen, die vergessen wurden.
Als ich zu schreiben beginne, taste ich die Räume um mich herum ab. Ich fühle ihre Kanten und Ecken, Dehnungen und Zerrungen. Blindlings suche ich Widerstände – Grenzen, an denen ich mich hochziehen kann.
Ich mache ich mich auf die Suche nach einer Tradition. Die Pinnwand, auf die ich meine Worte stecken möchte, ist mehr braun als weiß. Ich beschließe, in der Geschichte zurückzublicken, kneife die Augen zusammen und suche. Alles, was ich finde, sind Lücken.
Die Vorväter breiten sich in den Büchern aus. Sie erklären mir die Welt – und schreiben. Das, was sie schreiben, kommt direkt aus ihnen heraus. Ungebremst fließen ihre Worte aus ihren Seelen. Sie sind selbstbewusst und fühlen sich wohl in dem Territorium, das sie besetzen.
Die Vormütter sind an die Seitenränder gedrängt. Ganz selten lugen sie zwischen den Zeilen hervor. Aber die Furchen und Einkerbungen, die sie in die Buchstaben bringen könnten, werden von den Vorvätern glattgewalzt. Die Worte der Vormütter sind von Unsicherheit gehemmt. Sie triefen vor Selbstzweifeln und rechtfertigen sich mit jedem Satzzeichen.
Die Geschichte sagt mir, dass sie keinen Raum für mich hat. Schulterzuckend tut sie es. Wie, frage ich, keinen Raum für die Hälfte der Menschheit? Ich bleibe hartnäckig. Klammere mich an meine Vormütter, mache ich mit ihren Räumen vertraut, aber ich merke schnell, dass die Grenzen, die sie umgeben, enger sind als die ihrer eigenen Körper.
Schließlich finde ich sie doch. Bei meinen Bemühungen, mich mit ihnen zu identifizieren, stolpere ich über ein wiederkehrendes Raster. Nichts, heißt es da, oder Ausnahme. Die Vormütter, die aus den Geschichtsbüchern zu mir sprechen, sind als Ausnahmen abgestempelt. Wütend versuche ich das Raster zu dehnen. Reiße an den Streben, aber sie bleiben hartnäckig.
Ich greife nach einem Stift und beschließe, nicht mehr um Raum zu diskutieren. Ich werde ihn mir einfach nehmen. Ich fülle Seite über Seite mit meinen Worten und breite mich dadurch aus. Ich erkämpfe mir Raum mit Worten. Ein Lektor, der meinen Text liest, sagt, ich solle ihn überarbeiten. Er triefe vor Wut und sei verbissen. Er wünsche sich eine lockerere Hand. Einer, aus der die Worte fließen, wie bei den Vorvätern. Selbstbewusste, raumbewusste Worte.
Der Lektor stammt von Vorvätern ab, denen die Welt gehörte. Sie haben Amerika entdeckt und sich selbst zur Krone der Schöpfung erklärt. Ich aber stamme von Vormüttern ab, deren Stimmen unterdrückt wurden. In meinem Blut fließt die jahrtausendealte Gewissheit, dass mir jede Zeile, auf die ich meine Worte setze, nur geborgt wurde.
Meine Vormütter wurden aus der Geschichte getilgt, weil sie Furchen und Kanten in die glatten Räume der Vorväter geschlagen haben. Sie waren unsichtbar, aber haben mir doch den Weg geebnet. Sie haben ihre Worte nicht mit Nadeln an die Pinnwand geheftet, sondern sie in den Kork gestanzt.
Ich habe sie auf den ersten Blick nicht gesehen. Aber jetzt wird mir klar, dass sie da sind. Die weißen Zettel der Vorväter werden verwehen, wenn ich das Fenster öffne. Aber ihre Worte haben sich in das Material selbst eingeschrieben. Sie haben sich in den Raum eingeprägt, der ihnen genommen wurde.
Und das ist meine Tradition.
Erschienen in etcetera: LitArena X. Literaturpreis 2021 (Heft 85).