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Großvater

Ernst-u.-Rosa-von-Dombrowski-Stiftungsfondspreis

​1.

Großvater sitzt in seinem Lehnstuhl. Die Zeitung liegt auf seinen Oberschenkeln aufgeschlagen. Seine Finger halten das Papier an beiden Seiten fest. Er blättert einmal nach vorne. Dann einmal zurück. Zweimal nach vorne und jetzt klappt er sie zusammen und dreht sie um. Sein rechter Zeigefinger fährt über Wörter und Bilder. Er murmelt etwas vor sich hin.
Wenn ich mit den Händen in die Kiste mit den Legosteinen greife, gibt das komische Geräusche. Ich suche mir drei von den großen roten Klötzen raus und setze sie aufeinander. Dann suche ich den kleinen Gelben, finde ihn aber nicht. Kurz sieht Großvater von seiner Zeitung auf und brummelt Dunkles vor sich hin, wenn die Steine klappern. Ich weiß, dass ich den kleinen Gelben vorhin noch hatte, da habe ich nämlich die Burg gebaut und auf dem die Fahne befestigt. Aber dann kamen die Bösen und haben – peng, peng – die Burg kaputtgemacht und den Schatz geklaut. Ich wühle bis zum Grund der Kiste und oben fallen ein paar heraus und auf den Teppich. Der Teppich hat ein komisches Muster, so zackig. Als ich meinen Arm aus der Kiste ziehe, rutschen die Steine wieder nach unten.
Ich trinke von meinem Saft. Früher durfte ich den nicht auf den Teppich stellen, also das Glas. Weil ich mich schon runtergebückt habe, um es wieder abzustellen, bleibe ich gleich unten und schaue unter Sofa und Wohnzimmertisch. Versuche unter den Lehnstuhl auch zu schauen, wo Großvater sitzt, aber da hängt ein grüner Stoff mit ganz vielen Punkten in Rot darüber, dass man nur Dunkel sieht. Kein gelber Legostein. Großvater liest jetzt ein paar Worte laut. Ich würde gern unter dem Lehnstuhl nachschauen, ob da der Gelbe ist. Großvater hat noch seine Straßenschuhe an.
Ich krieche über den Boden, runter vom Zickzack auf das Holz. Hebe den Stoff an. Da ist er auch nicht. Großvater sieht zu mir runter. Ich krieche schnell wieder weg. Er folgt meinen Bewegungen mit den Augen, glaube ich. Ich setze einen kleinen Blauen auf den roten Turm, als ich es plötzlich sehe. Großvaters Hosentasche ist ausgebeult, als wäre da der Gelbe drin. Ich robbe wieder zu ihm, rutsche über das Holz.
„Du“, sagt Großvater.
Ich taste auf die Tasche und fühle den Stein.
„Der Gelbe“, sage ich und will meine Finger durch seine schieben, aber die sind hart wie meine rote Legomauer.
„Na“, sagt er. „Nein.“
Die Tür geht auf. Blauer Stoff wedelt heran, bleibt stehen, schwingt sich aus. Starrt, glaube ich.
„Bub, was machst du da?“
Klingt böse, aber nicht so böse. Sie zerrt mich weg.
„Du weißt doch, dass du den Großvater in Ruh lassen sollst“, flüstert sie.
„Aber der Gelbe“, sage ich.
„Was denn für ein Gelber?“, flüstert sie.
„Warum flüsterst du?“, frage ich. Sie seufzt.
„Der Gelbe“, sage ich nochmal.
„Sei ruhig, Bub“, sagt sie. Die Hand drückt mich auf das Sofa. Drückt nochmal.
„Spiel da weiter.“
Ich will fragen, wie ich denn da oben auf dem Sofa weiterspielen soll, wo doch keine Steine sind und auch der Gelbe nicht, weil der doch in Großvaters Hosentasche ist, wo ich nicht rankomme. Ich klettere vom Sofa und laufe Ma hinterher, in die Küche. Verschwinde unter dem blauen Stoff, der sich so toll dreht, wenn sie geht. Mas Beine sind ganz kalt, weil sie keine Strümpfe anhat wie sonst. Die Großmutter und die Tante sind auch da. Ich sehe nur ihre Füße, der Rest ist blau und das ist lustig, weil es aussieht, als hätte jemand ihre Beine abgeschnitten. Mas Hand fährt unter den Rock, dorthin, wo ich sitze. Zieht mich heraus.
„Du schon wieder“, sagt sie, aber das Böse ist jetzt aus ihrer Stimme raus und sie klingt wieder wie Ma halt klingt. Ich laufe zur Großmutter.
„Bub, die Großmutter richtet gerade das Abendessen her“, sagt Ma, aber ich bin schon da und klettere auf das Stockerl neben ihr. Ich kriege eine Scheibe Wurst von der Großmutter.
„Lass den Buben doch“, sagt sie. „Er kann mir ja helfen, nicht?“
Sie will mir etwas geben, aber ich klettere wieder vom Stockerl runter.
„Der Gelbe“, sage ich, „Ich glaub, der Großvater hat ihn.“
„Deinen Legostein?“, fragt sie und ich nicke.
Sie verzieht die Augenbrauen so komisch, dass es aussieht, als würden sie zu einer Linie zusammenwachsen. Ich habe das auch schon probiert, vor dem Spiegel, aber egal wie fest ich meine Stirn zusammendrücke, da bleibt immer ein bisschen Platz zwischen den Augenbrauen.
„Oje“, sagt die Großmutter jetzt und macht diesen Gesichtsausdruck, den sie immer macht, wenn man ihr Sachen vom Großvater sagt, die ihr nicht gefallen, wie zum Beispiel, dass er meinen Stein geklaut hat, obwohl man nicht klauen darf, außer vielleicht eine Scheibe Wurst, wenn niemand hinsieht.
„Weißt du was, Bub, deinen Stein bekommst du später wieder, wenn der Großvater seinen Pyjama anhat, ja?“, sagt Ma.
Die Großmutter nickt und schaut zerstreut, als würde sie auch einen Legostein suchen. Aber ich kann ihr leider keinen von meinen geben, denn ich habe sie gezählt und weil ich nur einen gelben Kleinen habe, weil der andere schon lange verschwunden ist, brauche ich die elf Roten und neun Grünen und zwölf Blauen und von den Großen sowieso alle, weil die für die Mauer wichtig sind, auf die dann die Burgzinnen kommen.

Ma schickt mich wieder ins Wohnzimmer zum Spielen, aber diesmal kann ich auf dem Teppich sitzen bleiben und davor kriege ich noch ein Stück Käse, auch wenn ich lieber Wurst hätte. Ich flitze ins Wohnzimmer und lege das Zickzack mit den Steinen nach so gut es geht, aber plötzlich wird es orange und ich habe keine orangenen Steine. Vielleicht kriege ich welche zu Ostern. Aber Ostern dauert noch vier Mal schlafen und ohne den Gelben macht es sowieso keinen Spaß und mir ist langweilig. Großvater hat inzwischen die Zeitung weggelegt und hat jetzt Mas Buch in der Hand, das er ganz hinten aufschlägt, obwohl man ein Buch doch vorn vorne liest, das weiß sogar ich und ich habe gerade erst alle Buchstaben gelernt.  
Der Großvater hat aber so eine Krankheit wegen der er ganz viel vergisst. Er hat sogar vergessen, dass der Gelbe mir gehört, aber da weiß ich nicht, warum, ich habe doch meinen Namen auf die Kiste geschrieben, und außerdem ist Großvater doch zu alt für Lego. Zumindest sagt das Ma immer über Großmutter, wenn ich mit ihr spielen will und die ist genauso alt wie Großvater, so ungefähr. Großmutter will sich beim Spielen nie auf den Teppich setzen, vielleicht mag sie das Muster auch nicht. Aber am Tisch spielen ist fad und außerdem muss ich dann die Burg wieder abbauen, wenn wir essen, weil dann kein Platz mehr für sie ist. Aber der Boden ist ihr zu weit unten, sagt sie immer.
„Warum?“, frage ich dann.
„Weil ich größer bin als du“, sagt sie. „Da muss ich mich doch viel weiter hinunter bücken.“
Ich beuge mich dann immer runter und berühre meine Zehen mit den Fingern ohne die Knie zu knicken, um ihr zu zeigen, wie weit ich runterkomme. Aber ich glaube, dass das Blödsinn ist, was sie sagt. Ma ist schließlich größer als Großmutter und spielt auch mit mir am Boden.


​2. 

Großvater schleicht um den Esstisch wie eine Raubkatze. Er dreht eine Runde, dann noch eine. Rückt die Stühle zurecht. Geht dann durch die eine Tür raus ins Stiegenhaus und durch die andere wieder rein ins Wohnzimmer, das mit dem Esszimmer und der Küche zusammenhängt, dass man gar nicht sagen kann, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Großvater geht noch einmal um den Tisch, bückt sich dann wie in Zeitlupe und streicht die Teppichfransen gerade, obwohl die immer so gerade sind. Papa sagt, es gibt nichts Geraderes in der Welt als Großvaters Teppichfransen. Aber ich kenne wohl Dinge, die gerader sind, meine Legosteine zum Beispiel. Die kann man gar nicht ungerade machen, außer man gibt sie in den Backofen, was ich mit dem Legoauto mal gemacht habe und dann sind die Ecken geschmolzen und die Räder haben komisch geeiert. Manchmal mache ich die Teppichfransen absichtlich schief, damit Großvater was zu tun hat und nicht nur um den Tisch gehen muss, tausend Mal am Tag, was fad ist, sogar noch fader als Spielen ohne den Gelben. Ich weiß das, weil ich habe das schon ausprobiert, zehn Mal habe ich geschafft und dann hat Großmutter gerufen und ich habe ihr geholfen, das Essen zum Tisch zu tragen. Nach Großvater ruft sie auch dauernd, aber hört sie nie, bis sie aus der Küche rauskommt und ihn anschaut und dann schlurft er ihr hinterher und kriegt was zum Abtrocknen. Oder einen Teller zum Hinstellen, aber den trägt er dann immer mit sich rum und am Ende finde ich ihn auf meinem Bett stehen oder Mas und stelle ihn schnell auf den Tisch, damit Großmutter nicht wieder ihr Augenbrauenspiel machen muss, aber sie bemerkt es trotzdem, glaube ich, und seufzt, als hätte sie zu viel Luft in ihrem Körper und die muss raus wie bei einem Luftballon, sonst platzt sie.

Wenn Großvater um den Tisch schleicht spiele ich auch Raubkatze. Ich springe auf allen Vieren durch das Haus und knurre, wenn mir jemand zu nahekommt. Aber Raubkatze spielen macht nur Zuhause Spaß, wenn Ma mitspielt und das tut sie hier nie. Hier ist sie immer so ernst und wird ganz schnell böse und ich muss mit mir selber spielen.
„Ich hab jetzt wirklich keinen Kopf dafür“, sagt sie dann.
Da Ma nicht mit mir spielt, muss ich Raubkatzendinge üben, damit ich Zuhause eine viel Bessere bin als sie und sie es bereut, nicht mitgespielt zu haben. Und so schleiche ich an Großvaters langen Beinen vorbei in die Küche unter den niedrigen Tisch am Fenster, wo nur Raubkatzen hinpassen, wenn sie sich ganz klein machen, und bleibe ganz still sitzen wie Raubkatzen es tun, wenn sie andere Tiere fangen wollen. Oben sind Stimmen.
„Wenn ich nur einen Augenblick allein sein könnt“, sagt Großmutter. „Ich komm ja zu nichts mehr. Nicht mal mehr lesen kann ich, da kommt er dann die ganze Zeit zu mir und will irgendwas oder ich muss aufpassen, dass er nichts wegräumt, was ich nachher noch brauche…“
Ich finde es schade, dass Großmutter nicht lesen kann, weil dann kann sie Großvater nicht daran erinnern, dass man ein Buch von vorne liest, aber das kann ich ja tun, wenn ich dann richtig lesen kann.
„Er geht mir halt jeden Schritt nach, wenn wir allein sind.“
Das tun Raubkatzen eben und ich will aus meinem Versteck unter Mas Rock springen, wo ihre Haut kühl ist und alles schön blau und die Beine abgeschnitten und außerdem frage ich mich, ob sie nicht vielleicht doch lieber Raubkatze spielen will, als hier herumzustehen, denn sie sagt gar nichts auf das was Großmutter sagt, vielleicht hat sie ja keine Lust zu reden. Aber dann macht sie so einen komischen Seufzer und ich traue mich doch nicht, unter ihren Rock zu springen, weil sie immer böse wird, wenn der Seufzer kommt und dann schickt sie mich bestimmt wieder auf das Sofa, wo keine Legosteine sind und ich nicht spielen kann. Ich sehe Großvaters Füße kommen, die in den Straßenschuhen stecken.
„Hallo, Papa“, sagt Ma übertrieben freundlich und ich wundere mich, warum sie das sagt, denn das ist doch nicht Papa, das ist Großvater. Ich krieche etwas vor, sodass ich sehen kann, dass sie ihm auf die Schulter klopft und er lächelt und etwas sagen will. Er brummelt etwas vor sich hin, das ich nicht verstehe, aber Ma versteht es scheinbar oder sie tut nur so als ob, denn sie nickt und lacht und Großvater nickt auch und geht dann aus der Küche, als hätte er noch was Wichtiges zu erledigen, aber ich brauche den Gelben jetzt unbedingt und so verlasse ich mein Versteck, flitze unter Mas Beinen durch und sie schreit leise auf, aber ich hänge schon beim Großvater am Bein und will zur Hosentasche und er bleibt stehen und sagt „Hoppla“ und nochmal und noch ein drittes Mal und dann lacht er, als hätte er ganz viel Spaß, aber das ist kein Spaß, denn ich brauche den Stein, jetzt unbedingt.
„Jetzt ist er aber gut gelaunt“, sagt Großmutter und ich sehe, dass sie und Ma in der Tür stehen und uns zuschauen.
„Komm, Bub“, sagt Ma und streckt die Hand nach mir aus. „Essen gibt´s.“
„Großvater“, sagt Großmutter mit lauter Stimme, „komm, setz dich hin, wir essen.“
Aber ich habe den Gelben gerade wieder gefühlt und kann jetzt nicht weg, wo ich doch schon so kurz davor bin, ihn zu haben. Plötzlich sind da aber Mas Hände auf meinem Körper und Ma ist so stark und zerrt mich weg vom Großvater.
„Hände waschen, ab ins Bad“, sagt Ma und ich flitze ins Bad, drehe ganz schnell den Wasserhahn auf und halte meine Hände für ganz kurz darunter, drehe das Wasser wieder ab und trockne mich ab, renne dann wieder ins Wohnzimmer und in meinem Magen grummelt es.
Da stehen sie alle drei um Großvater herum, irgendwie hilflos: Die Großmutter, Ma und die Tante ist auch wieder da. Und der Großvater ist in der Mitte, aber ist doch nicht wirklich da – das hat Ma zumindest mal gesagt. Ich frage mich, wo er ist, wenn nicht da, wo er steht. Ich will wieder Raubkatze sein, die alles beobachtet und sich anpirscht und krieche unter den Tisch auf den Teppich, aber einen anderen, nicht so komisch zackig. Unter dem Tisch liegt noch ein Krümel vom Frühstück, ein ziemlich großer. Ich sammle ihn auf und lege ihn auf die Teppichfransen, damit Großvater ihn später, wenn er die Fransen wieder glattstreicht, wegräumen kann. Großmutter, Ma und Tante setzen sich zum Tisch und ich klettere auf meinen Stuhl.
„Großvater, komm doch“, sagt Großmutter und Tante: „Papa, setz dich. Magst du was essen?“
Großvater nickt. „Jaja“, brummt er und nochmal: „Jaja.“ Und dann geht er noch eine Runde im Wohnzimmer herum, bevor er durch die eine Tür raus ins Stiegenhaus geht. Großmutter greift sich an den Kopf und stöhnt. „Das wird was, später beim Umziehen.“
Umziehen mag die Großmutter gar nicht, hat Ma mir gesagt. Da wird Großvater immer ganz böse auf Großmutter und packt sie ganz fest, obwohl sie ihm doch gar nichts tut. Und deshalb hat sie Angst davor und oft kommt Tante und hilft ihr, weil Ma, Papa und ich weit weg wohnen.
Großvater scheint immer noch im Stiegenhaus herumzugehen, denn er kommt nicht durch die andere Tür wieder herein, wie sonst. Alle sitzen da, ganz angespannt, wie Puppen, und warten. Ich stibitze eine Scheibe Salami vom Teller und niemand, nicht mal Ma, sagt etwas. Ich frage mich, wieso jemand, der eigentlich nicht mehr da ist, so viel Aufmerksamkeit kriegt.
„Ich schau mal nach, was los ist“, sagt Tante und geht ins Stiegenhaus. Dann kommt sie wieder und hinter ihr Großvater, den sie an der Hand hält und er hat Mas Buch in der anderen.
„Essen gibt´s, Papa“, sagt Tante beschwingt, aber sie klingt auch müde. Sie will die Tür hinter Großvater schließen, aber er reißt sich von ihr los.
„Nein“, sagt er ganz dunkel und schaut böse. Ich esse noch ein Stück Salami und dann beuge ich mich ganz weit über den Tisch, um zum Käse zu kommen, den Großmutter schon so schön aufgeschnitten hat, dass ich ihn direkt in den Mund schieben kann.
„Gut“, sagt Großmutter scharf. „Wir essen dann jetzt.“
Und das tun wir und Ma streicht mir sogar ein Brot, was sie sonst nur in der Früh vor der Schule tut. Wir essen und Großvater schleicht noch ein paar Mal um den Tisch herum, bis er bei mir stehen bleibt und sich zu mir runter beugt und das Brot von meinem Teller nimmt, das Ma mir gestrichen hat, und er lacht und als wieder weggeht sehe ich, dass er den gelben Legostein in der Hand hat und ich springe auf und rufe „Der Gelbe!“, aber Ma hält mich fest und ich muss mitansehen, wie er wieder in Großvaters Hosentasche verschwindet und er mein Brot isst. 
Großmutter klingt ganz weinerlich als sie sagt: „Das ist doch das Brot vom Bub, Großvater, komm, ich habe dir schon zwei Brote gemacht.“
Aber er hört nicht und geht ins Wohnzimmer und alle drei sitzen da, als wären sie Steinstatuen. Also stehe ich auf und nehme Großvater fest an der Hand und er lässt sich von mir zum Tisch führen und setzt sich hin und alle drei starren mich an und das Beste ist, dass Ma mir noch ein Brot streicht und diesmal Wurst darauf tut.

3. 

„Weißt du, Bub, der Großvater ist jetzt nicht mehr lang so wie er jetzt ist“, hat Ma einmal zu mir gesagt.
„Wie ist er dann?“, habe ich gefragt.
Ma hat mit den Schultern gezuckt und so ahnungslos geschaut, wie Ma eigentlich gar nicht schauen kann. „Das weiß ich nicht.“
„Warum weißt du dann, dass er nicht mehr so ist wie er jetzt ist?“, habe ich gefragt.
„Ach, Bub“, hat Ma gesagt. „Der Großvater hat eine schlimme Krankheit.“
„Was für eine Krankheit?“, habe ich gefragt.
„Eine Krankheit, die ihm das Hirn zerfrisst und ihm alle Erinnerungen wegnimmt.“
„Und warum tut sie das?“
„Was?“
„Na, die Erinnerungen wegnehmen. Hat sie selber keine, dass sie die von den Anderen klauen muss?“
Jetzt hat Ma völlig verwirrt ausgesehen. „Wer?“
„Die Krankheit!“
„Ach so.“ Ma hat gelacht, dabei würde ich nicht lachen, wenn gerade das Hirn vom Großvater zerfressen wird.

Beim Einschlafen fällt mir ein, dass ich den Gelben immer noch nicht gekriegt habe, obwohl Ma doch gesagt hat, ich kriege ihn, wenn Großvater seinen Pyjama anhat und in dem geht er doch jetzt schlafen. Doch als Ma ins Zimmer kommt, schaut sie so müde aus, dass ich mich nicht traue, sie zu fragen. Aber was, wenn Großvater den Gelben irgendwo versteckt hat, wo ich ihn nie wiederfinde, wie Großmutters Uhr, die ist auch irgendwohin verschwunden und nie mehr aufgetaucht.
„Ma?“, frage ich in die Dunkelheit.
Sie brummelt nur irgendwas, also gehe ich rüber zu ihrem Bett und tippe sie an. Sie zuckt.
„Bub! Es ist spät, schlaf endlich.“
„Aber du hast mir den Gelben noch nicht gegeben.“
„Den brauchst du doch jetzt nicht“, sagt sie. „Du kriegst ihn morgen.“
„Aber war er denn in der Tasche vom Großvater?“
„Was? Keine Ahnung, jetzt schlaf endlich!“
Ich rüttle noch ein wenig an ihr, aber sie gibt nur so komische Laute von sich und da frage ich nochmal: „War er denn in der Hosentasche?“
Aber sie reagiert nicht und vielleicht ist sie eingeschlafen und das bin ich dann auch bald, obwohl ich noch wirklich viel an den Gelben gedacht habe, weil er doch mein Lieblingsstein ist und wichtig für die Fahne, die man nur auf dem montieren kann, weil er ein Loch oben hat, das die anderen nicht haben.

​4. 

Als ich in der Früh aufwache ist es hell und das Helle kommt ganz stark von oben und nicht vom Fenster wie sonst. Ich brauche ein bisschen, bis der Schlaf von meinen Augen weg ist und ich was sehen kann. Das große Licht im Schlafzimmer brennt, aber Ma schläft noch, also verlasse ich die Wärme des Bettes und tapse zum Lichtschalter, ohne Socken, weil die habe ich in der Nacht irgendwo im Bett verloren. Und als ich zurück zum Bett gehe, sehe ich einen Socken am Boden liegen und ziehe ihn an und den anderen finde ich hinter dem Kopfkissen und ich ziehe ihn auch an.
Im Haus ist es noch ganz ruhig. Draußen brennen auch alle Lichter. Ich gehe ins Bad und mache das Licht in der Dusche aus und dann das über dem Spiegel, dann das vom Stiegenhaus und Vorzimmer und auch die Lichter draußen auf der Terrasse sind an, obwohl es doch gar nicht Abend ist und die braucht man nur am Abend, wenn es dunkel ist und man sonst nichts sieht. Das Licht der Stehlampe hinter Großvaters Lehnstuhl mache ich auch aus und das große Licht oben an der Decke und das runde Licht über dem Esstisch auch. In der Küche höre ich was klappern und ich laufe hin und schaue nach und da steht Großvater und hat ein Glas in der Hand, das ihm Großmutter vielleicht zum Abtrocknen gegeben hat, vielleicht aber auch nicht. Großvater kaut irgendwas und ich habe auch Hunger und will Großmutter suchen, damit sie mir Müsli macht mit Milch, das kriege ich hier immer, aber Zuhause nie, weil Ma das nie kauft, sondern immer nur das Gesunde, das fad schmeckt.
Ich schaue zur Hosentasche, aber die ist nicht ausgebeult, denn es ist eine andere Hose. Und dann laufe ich zu Großvaters Schrank im Schlafzimmer und öffne die Lade, wo er immer all die Sachen hingibt, die er tagsüber so ansammelt und da liegen schön aufgereiht nebeneinander: Mas Buch, ein Korkenzieher, zwei Stifte, sein Buch, ein Fruchtzwerg aus dem Kühlschrank – der Grüne, der nach Apfel schmeckt –, ein schön glänzender Stein, eine Kette mit einem Kreuzanhänger und daneben der Gelbe mit dem Loch oben für die Fahne. Ich schnappe ihn mir und den Fruchtzwerg auch, aber der ist schon ganz warm, weil er eigentlich in den Kühlschrank muss, aber er schmeckt trotzdem wie immer.

Zu Mittag fahren wir in ein Restaurant, sagt Ma, und wir gehen dort essen. Ich bin der Erste im Auto, denn ich bin am schnellsten im Schuhe anziehen. Aber Großvater müsste eigentlich noch schneller sein als ich, weil er ja seine Straßenschuhe schon wieder die ganze Zeit anhat, aber ich glaube das liegt auch an der Krankheit. Vielleicht hat er auch vergessen, dass die Straßenschuhe für draußen sind, wo es schmutzig ist und nass, wenn es regnet, und die Hausschuhe für drinnen. Ich klettere auf den Rücksitz und suche nach dem Teil des Gurtes, den man dort neben dem Sitz so einklickt, dass es ein lustiges Geräusch macht. Ich finde ihn und es klickt und dann schaue ich aus dem Fenster und kurble es runter. Draußen führt Tante Großvater die Stiegen runter, sie hat sich bei ihm eingehakt. Ma telefoniert neben dem Auto mit Papa, der zuhause ist, weil er arbeitet. Großmutter hat gerade die Haustür zugesperrt, bleibt aber stehen und ruft irgendwas, was ich nicht verstehen kann, und geht nochmal zurück, sperrt die Tür wieder auf und verschwindet im Haus. In der Hand halte ich den Gelben und drücke ihn ganz fest.

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