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Was bleibt, wenn es still wird?

Im Fernsehen sagt der Gesundheitsminister, dass wir dieses Jahr Weihnachten ein wenig anders feiern müssen.


In der Küche walkt Margarete den Teig für die Zimtsterne aus, während die Kinder sich um die Keksformen streiten.

Das Studiolicht lässt den Minister blass aussehen. Der Moderator sitzt ihm auf der anderen Seite des Bildschirms gegenüber und stellt Fragen.

Margarete beginnt, die Erdäpfel für das Abendessen zu schälen und heizt den Ofen vor. Die Kinder stechen Herzen, Sterne und Tannenbäume.

Im Wohnzimmer sitzt Margaretes Mann auf der Couch, die Beine hochgelegt, die Fernbedienung neben sich auf der Armlehne.

Was bedeutet das konkret? Mit welchen Einschränkungen muss man an den Feiertagen rechnen?

Margarete brät den Lachs und schiebt die erste Ladung Kekse ins Backrohr. Die Kinder helfen ihr dabei und erschrecken vor der heißen Luft, die ihnen entgegenströmt.  

Margaretes Mann dreht lauter, weil Kindergeschrei aus der Küche kommt.

Draußen schneit es immer stärker. Über den Bergspitzen hängen Nebeldecken.

Vor der Pressekonferenz könne er noch keine genauen Angaben machen, sagt der Gesundheitsminister. Man werde aber versuchen, so weit wie möglich, Normalität herzustellen.

Margarete klopft den Kindern das Mehl von den Schürzen und beginnt, den Salat zu schneiden. Die Kinder sollen den Papa fragen, ob er Paradeiser in den Salat möchte.

Margaretes Mann ist genervt, dass die Kinder genau dann kommen, wenn der Moderator über die aktuellen Infektionszahlen spricht. Er sagt, dass er noch nie Paradeiser in den Salat haben wollte.

Der Gesundheitsminister appelliert an die Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Es sei jetzt wirklich wichtig, sich an die behördlichen Vorschriften zu halten. Er spricht freundlich, aber seine Stirn ist sorgenzerfurcht.

Margarete schneidet sich in den Finger. Sie läuft ins Bad und holt sich ein Pflaster. Die Kinder sagen ihr, dass Papa noch nie Paradeiser in den Salat wollte. Margarete wird wütend und der Finger tut ihr weh.

Inzwischen steht Margaretes Mann vor dem Fenster und betrachtet den aufziehenden Schneesturm.

Der Himmel ist weiß.

Der Moderator bedankt sich beim Gesundheitsminister für das Gespräch. 

Margarete hat das Pflaster auf ihren Finger geklebt und eilt in die Küche, um den Lachs zu wenden. Sie holt das Blech mit den Keksen aus dem Backrohr.

Margaretes Mann ruft, wann ist das Essen endlich fertig, und ärgert sich, dass er die abschließenden Worte des Moderators verpasst hat. Draußen zerrt der Wind an der Lichterkette, die auf den Sträuchern schwach leuchtet.  

Im Fernsehen läuft jetzt Werbung mit Weihnachtsmusik.

Margaretes Finger schmerzt. Die Kinder wollen Kekse haben, Margarete sagt, nicht vor dem Essen. Ihr Mann ruft irgendetwas. Sie ärgert sich und wird hektisch. Trägt die Schüssel mit den Erdäpfeln aus der Küche.

Margaretes Mann dreht den Fernseher ab.

Draußen reißt der Winterwind an den Fensterläden.

Das kleinere Kind bekommt Angst und läuft mit teigverschmierten Händen zum Papa.

Der Papa schickt es zur Mama.

Margarete kommt aus der Küche, das Kind stürzt sich auf ihre Beine, die Schüssel mit den heißen Erdäpfeln fliegt – und alles verteilt sich auf dem Boden.

In Wien setzt sich der Gesundheitsminister die Maske auf und geht durch den einsetzenden Schneefall vom Studio zum vorgefahrenen Wagen. Jemand öffnet ihm die Tür, aber er hält noch einen Moment inne und spürt die Schneeflocken auf seinen Haaren. Es ist kurz vor zwanzig Uhr. Die Straßen sind menschenleer.

Margarete, ihr Mann und die Kinder erstarren für eine Schreckenssekunde, während die Erdäpfel auf dem Holzboden dampfen. Das kleinere Kind lutscht die Teigreste von seinem Daumen.

Einen Augenblick lang verstummt das Tosen des Winterwindes.

Seltsam, denkt sich der Gesundheitsminister. Es ist so still in der Welt. Mit einem zufriedenen Lächeln setzt er sich den Wagen. Die Autotür schlägt zu.


Was bleibt, wenn es still wird?


Erschienen in: Spektrum der Presse (18.12.2020)

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