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zeit-los

Die Zeit

Er hatte sich in diesem Moment über die Autos geärgert, die auf der parallel zu seinem Grundstück verlaufenden Straße fuhren, denn durch den Lärm, den sie verursachten, konnte er nicht hören ob die Eieruhr noch tickte. Doch das musste er, denn wenn sie nicht mehr tickte hieß das, er hatte das Läuten verpasst und das bedeutete wiederrum, dass der Mais zu lange gekocht hatte und dann war er zum Wegschmeißen. Als das Schnauben der Autos verklang, da vernahm er das gleichmäßige Ticken und war beruhigt, griff nach seiner Zeitung und überflog ein paar Artikel, die ihn langweilten. Er war grundsätzlich einer der Menschen, die nur Zeitung lesen, weil man eben Zeitung liest, weil man eben darüber informiert ist, was hier und dort und dort und da passiert.


Er hatte letztens von einem Mann gehört, der sich für sechs Monate nach Sibirien zurückgezogen hatte um die Zeit zu bezwingen. Und er stellte sich vor, wie man die Zeit bezwang, wie einen Cartoon stellte er es sich vor, ein Mensch mit Gerte und Sporen auf etwas reitend, das die Zeit sein sollte.
Schließlich ertönte das metallische, rasselnde Klingeln der Eieruhr, viel zu kurz, als, dass es die meisten Leute von Vögel- und Grillenlauten hätten unterscheiden können und viel zu leise, als, dass es nicht unter dem Geräusch eines einzigen vorüberfahrenden Autos untergegangen wäre. Aber durch einen Zufall setzten all diese Geräusche gerade aus und so konnte er sich aus seiner Hollywood-Schaukel erheben, über den Steinweg zur Terrasse spazieren und dort den Weg in die Küche nehmen. Der Mais war herrlich gelb und die einzelnen vorhin noch so zusammengedrückten Körner waren zu Prächtigen angeschwollen. Das klirrende Grillenzirpen läutete den Abend ein, die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, er legte eine Jazz CD ein und freute sich auf sein Abendessen.

Die Zeit scheint ein Rad zu sein – einem Hamsterrad gleichend – in dem alle Menschen gefangen sind, abgesehen von den Kindern, die noch zu klein sind, um das Rad überhaupt erreichen zu können. Aber die Weltordnung will es, dass sie, sobald sie das Alter erreicht haben, vergessen, dass es einmal eine Zeit ohne der Zeit gegeben hat und es scheint eine Eigenheit des Rades zu sein, dass es sich immer schneller dreht, je älter man wird, je länger man in ihm mitläuft.

Als der Mann – den wir von nun an Herr M. nennen wollen – seinen golden knusprigen Mais auf seiner Terrasse unter der gelb-weiß-gestreiften Markise verzehrte, die Finger bald fettig wie der Mund, die Serviette zerknüllt, die Sonne bald hinter den Horizont rutschend; als er also den Mais an diesem lauen Sommerabend verspeiste, da wurde er plötzlich aus der Zeit gehebelt. Wie das geschah, kann ich nicht erklären, aber er war so vertieft in den Moment gewesen, dass er die Zeit völlig vergessen hat. Und zufällig hatte die Zeit auch ihn für einen Augenblick vergessen und er ist vom Hamsterrad gefallen. Und plötzlich war da keine Zeit mehr in seinem Leben.

Für jemanden, der noch nie ohne Zeit gelebt hat – was so ziemlich jeden von uns betrifft – ist es nicht leicht, sich den Zustand vorzustellen, in dem Herr M. sich jetzt befand. Bildlich gesprochen fühlte er einen weiten, unbegrenzten Raum vor sich. Dadurch, dass er seine Zukunft nicht mehr in Jahre und Tage eingeteilt vor sich sah und die Minuten und Sekunden verstrichen, ohne, dass er sie registrierte, war er in der Lage, das Unmittelbare auf eine ganz andere Weise zu erleben, als er es bisher getan hatte.

Und das fühlte sich wunderbar an! Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich frei, fühlte er sich dem Kind, das er einmal gewesen war, wieder nahe, konnte plötzlich sehen, was andere nicht sahen: Den Kreislauf des Lebens, diesen unsinnigen Kreislauf, dieses Rad, in dem alle Menschen gefangen sind, diese Hetzerei, der sie unterliegen, die ständige Eile! Er sah von seinem abgenagten Mais auf und stellte eines fest: Die Zeit war den Menschen zum Feind geworden. 

Aber so unbemerkt die Zeit auch verschwunden war, so rasch hatte sie doch ihren Fehler bemerkt und Herrn M. wieder auf ihr Rad gesetzt. Da stieg eine so zornige Verzweiflung in ihm auf, dass er ruckartig aufstand, wutentbrannt in den Garten lief und brüllte, er wolle die Zeit bezwingen. An den fremden Mann in Sibirien dachte er nicht mehr, jetzt war er es, der sein Leben in die Hand nehmen wollte, nur um sich kümmerte er sich, um niemanden sonst, was zählte war nur der Augenblick, war der Teil in ihm, der endlich erwacht war und begriffen hatte, wie lange er ein Sklave der Zeit gewesen war. Noch nie ist ein Mensch so egoistisch gewesen wie Herr M. in diesem Moment, in dem er alle Menschen dieser Erde vergaß und nur an sich dachte und sich schwor, der erste Mensch zu sein, der die Zeit besiegte.


Die Stadt

Wie Würmer kriechen sie durch die Straßen, dachte er, bevor er in die Straßenbahn einstieg. Die Straßen, Gebäude und Menschen zogen am Fenster vorbei und er blieb auf seinem Platz sitzen. Ein stiller Punkt in einer bewegten Welt. Den ganzen Tag saß er hier, dazwischen ging er ein paar Schritte in der Bahn auf und ab, dann saß er wieder, die Augen ans Fenster geheftet, das inzwischen von Regenschleiern überzogen war.

Er sah Menschen kommen und gehen, ein- und aussteigen. Er sah, wie sie die Bahn als Mittel zum Zweck benutzen, eine Verbindung von zwei Orten, zwei verschiedenen Aktivitäten; und er sah, dass sie alle diesen Aktivitäten nachhingen. Das Bahnfahren selbst war nichtig und nutzlos, sie widmeten ihm keine Aufmerksamkeit, nicht dem Ort an sich, nicht den Menschen, die ihnen gegenübersaßen, nicht einmal sich selbst und das, genau das, fand Herr M. irritierend. Dass sie ihren Mitmenschen keine Beachtung schenkten, konnte er noch nachvollziehen, aber, dass sie sich selbst so leer und hüllenhaft hier sitzen ließen, fand er schockierend. Aber genau das taten sie und das waren sie: Hüllen, deren Geister nicht bei ihren Körpern verweilten.

Man sieht nicht nur Vieles, wenn man einen Tag lang Menschen beim Bahnfahren beobachtet, man versteht auch Vieles. Herr M. verstand wahrlich sehr viel, wie er da von früh bis spät in der Bahn saß und seine Umgebung studierte. Und natürlich bemerkte er auch, wie die Zeit die Menschen gezeichnet hatte. Die meisten schienen nicht zu wissen, dass sie alleine über ihre Zeit bestimmen durften. Viele allerdings – so hatte er das Gefühl – wären damit auch vollkommen überfordert gewesen. Vielleicht ist es gut so wie es ist, dachte er bei sich, vielleicht ist es gut, dass es so viele Vorschriften gibt, was man wann und wie lange und wie oft tun soll. Was würden sie denn alle tun, wenn sie ganz auf sich allein gestellt wären? Sie kämen doch damit nicht zurecht. Sie sind Stadtmenschen, das bedeutet, sie sind nicht nur den Gesetzen der Zeit, sondern auch jenen der Stadt unterworfen. Und eines dieser Stadt-Gesetze ist nun mal, dass es immer etwas zu tun gibt.

Dinge zu beobachten ist das eine, aber wenn man dann nicht darüber nachdenkt und reflektiert, ist es zu nichts nütze. Aber genau das tat Herr M. am folgenden Tag – ein Sonntag –, da setzte er sich auf seine Terrasse, ärgerte sich über die vorüberfahrenden Autos und versuchte klar zu denken. Er hatte gesehen, was er längst gewusst hatte, aber nun hatte er es gesehen und das macht einen großen Unterschied und so saß er nun hier und überlegte, wie er all seine Illusionen umsetzen könnte. Das Wichtigste ist, sich Zeit zu nehmen, dachte er. Jede Tätigkeit als eine Tätigkeit an sich zu verstehen und nicht als Mittel, um etwas anderes zu bekommen oder zu tun.


Am Sonntag funktionierte das auch wunderbar. Herr M. nahm sich Zeit, die Zeitung zu lesen und das Abendessen zuzubereiten, er nahm sich Zeit für den Abwasch und beeilte sich nicht, als er seine Tasche für die Arbeit packte und legte sich so friedlich zu Bett, wie es schon lange nicht mehr der Fall gewesen war.

Aber der Montag änderte alles. Vielleicht ist es genau das, was so viele Menschen am Montag nicht mögen: Dass er alle Träume und Vorstellungen vom Sonntag zerstört. Und genauso war es. Beim ersten schrillen Weckerklingeln war es mit der Ruhe aus. Die Müdigkeit in allen Gliedern ließ Herr M. den Wecker noch zweimal klingeln, bis er aufstand, dadurch geriet er allerdings in Eile, duschte schnell, griff nach seiner Tasche und kaufte sich auf dem Weg zur Straßenbahn ein Brötchen, das er beim Fahren verspeiste. Im Büro ließ er sich vom hektischen Getriebe der Kollegen anstecken und als er am Abend nach Hause kam, war er so erschöpft, dass er sich nur rasch etwas aufwärmte und dann vor dem Fernseher zu Abend aß.

Als er im Bett lag wurde ihm bewusst, was er getan hatte.

Nein, nicht was er getan hatte, er war es schließlich nicht gewesen. Er war doch derjenige, der am Vortag ruhig und friedlich zu Bett gegangen war, der das schlechte Omen des Montags ein für alle Mal aus der Welt schaffen wollte! Es musste an den anderen liegen, ja, an den Kollegen, warum hatte er nicht im Voraus daran denken können? Er hatte es doch gemerkt – kaum war der Tag angebrochen, kaum hatte er einen Schritt ins Büro gemacht, waren alle sonntäglichen Vorsätze schon wieder vergessen. Und das konnte an keinem anderen Umstand liegen, als dass er der Hektik und der mürrischen Montagmorgenstimmung der Anderen unterlegen war! Alles Leute, die nicht wussten, dass sie Sklaven ihrer Eile waren und die sich daher noch mehr beeilten, nicht wissend, dass sie so in eine Sackgasse liefen. Für Herr M. stand eines fest: In Gegenwart solcher Menschen konnte er niemals sein Ziel erreichen. In der Stadt war ein zeitloses Leben absolut unmöglich.
Er fühlte sich, als würde ihm die Luft abgeschnürt werden. Er griff sich an den Hals und wusste, was er zu tun hatte: Sich schnellstens aus dem Getriebe befreien und die Stadt verlassen. Muss man frei von jeglichem gesellschaftlichen Zwang sein, um zeitlos zu leben?

Das Land

In der Natur scheint die Zeit stillzustehen, dachte er bei sich, man sagt doch, in den tiefen Schatten der Tannen und den Höhlen unter den dicken Wurzelgeflechten gäbe es weder Zeit noch Raum.
Und Herr M. tat das, was viele Menschen tun, wenn sie verzweifelt sind: Er packte seine Taschen und reiste weit fort. Er wusste nicht genau, wohin er ging und eigentlich spielt das für die Geschichte auch keine Rolle, es genügt zu wissen, dass er weit wegging, raus aus der Stadt, irgendwohin, wo nur sehr wenige Menschen lebten und wo er sich eine kleine Hütte baute, die auf einer von Wäldern umsäumten Anhöhe lag.

Und hier versuchte Herr M. seine Fassung wiederzugewinnen. Seine Erfahrungen in der Stadt hatten ihn gelehrt, was er jetzt umsetzen wollte: Die absolute Ruhe zu erlangen, denn das – so glaubte er – sei eine wichtige Voraussetzung um Zeitlosigkeit zu erleben. Fernab von städtischem Trubel wollte er spüren, wie es sich anfühlte, an einem Ort zu sein, an dem die Zeit sich nur nach ihm richten musste, weil sonst niemand da war. In der Stadt gehört die Zeit namenslosen Figuren, aber der einzelne Bürger scheint ihrem Kreislauf nicht entkommen zu können; aber vielleicht war genau dieser Gedanke der eigentliche Fehler in seinem Plan: Vielleicht konnte man kein Mitglied der Gesellschaft bleiben, wenn man sich über die Gesetze der Zeit hinwegsetzen wollte. Wenn man als einziger über seine Zeit verfügen möchte, kann man das nur schlecht in einem Netz aus Menschen und Verordnungen tun, denn es verwirren sich die eigenen Lebensfäden unwillkürlich mit denen anderer Menschen.
Aber hier, dachte Herr M., hier wird mir das nicht geschehen. Die Natur nämlich kennt keine Zeit, da bin ich mir ganz sicher, sie ist etwas vom Menschen Geschaffenes. Wie aber mag wohl die Natur ausgesehen haben, bevor die Nächte und Tage durch die Zeit in Stunden gezwängt wurden? Gab es eine Art natürlichen Zustand, in dem noch keine Uhr bestimmte, wie lange es schon Tag war, in dem man nur der Intuition gefolgt war?
Ja natürlich, sagte Herr M. sich, natürlich muss es das gegeben haben!
Und diesen natürlichen Zustand wollte er nun erlangen. Zur Ruhe kommt man, in dem man den Geist nicht ablenkt, dachte er bei sich. Ich muss ihn fokussieren und mich auf das Unmittelbare konzentrieren.


Und so schärfte er seinen Geist und arbeitete daran, seine Aufmerksamkeit nur auf jene Dinge zu richten, die für diesen einen Moment von Bedeutung waren.

Mit der Zeit spürte Herr M. die Wirkung am eigenen Leib. Die Ruhe hatte sich in seinem Leben angesiedelt. In seiner Brust war es nun still und in seinen Gedanken stets friedlich. Stundenlang saß er auf dem wild sprießenden Gras, das in Lichtungen der Gebirgswälder wuchs, die Beine verschränkt, die Augen geschlossen und lauschte der Stille in sich.

Und eines Morgens erwachte er und glaubte, dass er sein Ziel erreicht habe. Nun war aber das kurze zeitlose Erlebnis in seinem Garten beim Maisessen unter der gelb-weiß-gestreiften Markise schon so lange her, dass er sich kaum noch erinnern konnte, wie es sich angefühlt hatte. Er glaubte zwar, dass er jetzt die Zeitlosigkeit endlich wieder spürte, aber sicher war er sich nicht. Und das machte ihn wütend. Nicht zu wissen, ob er sein Ziel erreicht hatte, trieb ihn beinahe in den Wahnsinn. Doch die Vermutung, es geschafft zu haben, setzte sich trotzdem durch und irgendwann war er so fest davon überzeugt, die Zeit bezwungen zu haben, dass er nun nicht mehr aktiv daran arbeitete.


Und so wurde ihm von einem Tag auf den anderen schlagartig langweilig. Er merkte, wie sich wieder Gedanken an die Zukunft zu regen begannen, wie er sich schon am Abend überlegte, wie er den nächsten Tag bestmöglich nützen könne. Das Unmittelbare wich wieder zurück.
Und Herr M. saß auf dem Holzschemel vor seiner Hütte und merkte, dass er sein Ziel nie erreicht hatte. Das Gefühl der Zeitlosigkeit war eine Illusion des friedvollen Moments gewesen, aber auch nicht mehr: Er hatte das Gefühl, seine Zeit zu verschwenden.

Aber vorerst erlag er der Macht der Gewohnheit und änderte nichts. Herr M. blieb in seiner Hütte, brach wieder zu Wanderungen auf und versuchte, seine Gedanken lahm zu legen. Aber in all diesen Aktivitäten lag nun etwas Passives, das dem Aktiven gewichen war.

Und plötzlich war er alt geworden. Zuerst bemerkte er, dass sein Haar weiß wurde, dann schmerzten ihm der Rücken und die knochigen Gelenke. In all den Jahren der Suche nach der Zeitlosigkeit hatte er eines übersehen: dass die Zeit unaufhörlich verrinnt und weitergeht. Er hatte gesucht und gesucht und niemals das gefunden was ihm vorgeschwebt war. Sein Körper war nun vom Alter gezeichnet und seine Tage gezählt und er hatte sein Leben in Einsamkeit verbracht und war einem Hirngespinst hinterhergelaufen, um das all seine Gedanken gekreist waren. Er hatte versagt.


Die Erkenntnis

Diese Erkenntnis traf ihn schmerzlich. Und bald wünschte er sich, die kurze Erfahrung der Zeitlosigkeit nie gemacht zu haben, denn wesentlich schlimmer als unsere eigenen Möglichkeiten nicht zu kennen ist es, über sie Bescheid zu wissen, aber sie nicht erfüllen zu können.  

Was hätte er doch alles aus seinem Leben machen können, wenn er es nicht an sich hätte vorbeizeihen lassen! Was hätte er alles erreichen können? Die meisten Menschen leben unter der Knechtschaft der Zeit, sie leben sogar recht gut damit, wieso hatte er es nicht dabei belassen?

Dann besann er sich. Er trat aus seiner Hütte in das morgendliche Sonnenlicht, das auf einen kniehohen Stein – umwuchert von Wiesenblumen und Unkraut – fiel. Dieser Stein, dachte er, ist der Inbegriff der Zeitlosigkeit. Seit Abermillionen von Jahren existiert er nun schon, trägt die Zeichen der Weltgeschichte in sich und ist doch so unberührt von ihr, als wäre er kein Teil dieser Welt.
Er setzte sich auf den Stein, seine harte Oberfläche war warm und bedeckt von vereinzelten kleineren Steinen und Erdbrocken, die er mit der Handfläche auf den Boden fegte.

Dort saß er nun und dachte nach. Stunden vergingen, es wurde Abend, es wurde Nacht, es wurde wieder Morgen. Und Herr M. saß immer noch auf dem Stein und dachte nach. Er grübelte.


Stadt, Land. Das alles war doch völlig egal. Ja, das war es: egal, dachte er, vollkommen egal. Es ist nicht wichtig, wo ich mich befinde. Der Mann in Sibirien dachte vielleicht, er könnte seine Ruhe und Stille nur in den weiten Ebenen Russlands finden, aber das stimmte gar nicht. Er hat die unberührte Natur vielleicht gebraucht, um sich der schnelllebigen Welt entziehen zu können, aber – und jetzt stand Herr M. auf; seine Knie knacksten, alles an ihm war erstarrt und wie eingefroren, der Rücken gekrümmt, die Oberschenkel eingeschlafen, alles tat ihm weh, aber ist es nicht immer so, wahre Erkenntnisse tun weh – aber eigentlich spielt es keine Rolle, wo man lebt, ob man im Sog der ständig murmelnden Großstadt treibt oder sich auf den moosbewachsenen Hängen eines abgelegenen Gebirges ausstreckt.
Einzig wir sind wichtig, dachte er, wir allein, unsere Umwelt spiegelt sich doch nur in uns.
Ob Stadt oder Land – ich kann überall ein hektischer, mürrischer, aber auch ein ruhiger und friedvoller Mensch sein. Es hängt nur davon ab, was ich aus meiner Umgebung mache, was ich mit mir selbst mache. Die Kollegen im Büro hätten niemals die Macht gehabt, mich wieder zu einem hektischen und schlechtgelaunten Menschen zu machen, wenn ich es nicht zugelassen hätte!
Schon als ich montagmorgens ins Büro kam, stand es geschrieben, dass der Tag so enden würde. Ich trug doch alle Voraussetzungen dazu in mir! Ich habe gedacht, ich kann die Ruhe des Sonntags ohne Weiteres in den Montag mitnehmen, aber ich bin der Macht der Gewohnheit zum Opfer gefallen und habe mich treiben lassen, habe Bereitschaft gezeigt, der Hektik der Anderen zu unterliegen, ohne zu begreifen, dass es ganz allein von mir abhängt, wie meine Umwelt auf mich reagiert. Die Welt ist ein Spiegel, der mir nur jene Bilder zeigt, die er in mir sieht.

Wieso hatte er nur solange gebraucht, um das zu begreifen?

Nach diesem Gedankengang sah die Welt anders aus. Herr M. ließ seinen Blick über die rauen Bergkuppen bis hinunter in die Senken und bewaldeten Täler wandern, rieb die Hände aneinander und sagte sich: Die Zeitlosigkeit war immer da. Sie war in mir. Sie lässt sich nicht durch äußere Umstände herbeiführen. Eine Welt ohne Zeit ist unvorstellbar, zum Glück gibt es sie, zum Glück verleiht sie unserem Leben Ordnung.
Er atmete ruhig. Ich habe die Zeitlosigkeit in mir gesucht, dachte er. Und vielleicht habe ich sie sogar gefunden. All die Jahre, in denen ich sie gesucht habe, ist sie vielleicht plötzlich in mir entstanden. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist Zeit auch einfach eins von den Dingen, die für immer ein Mysterium bleiben werden. Er lachte. Ich weiß es nicht, sagte er und ohne sich noch einmal umzudrehen begann er den Abstieg ins Tal.


Erschienen in: AUFTAUCHEN - Neue Literatur aus Niederösterreich. Literaturedition NÖ (Hg. Wolfgang Kühn)


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